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Positionspapier der CivilMPlus-Plattform für Fortschritte beim Frieden in der Ostukraine: Deeskalation, robuster Waffenstilstand und Wiederaufbau (GER)

Anlass: Besuch des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelenskij in Deutschland und Treffen  mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am 12. Juli 2021. 

Die in der internationalen Plattform „CivilMPlus“ zusammengeschlossenen europäischen NGOs möchten auf die sehr angespannte und dynamische Lage im Konfliktgebiet Ostukraine  und in deren Umfeld aufmerksam machen. Die anti-ukrainische Entfremdungspolitik der  russischen Führung in den von ihr und den Separatisten kontrollierten Gebieten der Ostukraine schreitet ungehindert voran. An der Westgrenze Russlands hat die Moskauer Regierung bisher,  entgegen anderslautender Ankündigungen, ihren massiven Truppenaufmarsch vom Frühjahr  nicht beendet. Eine militärische Eskalation ist daher jederzeit möglich. Zeitgleich scheint sich  seit dem Biden-Putin-Gipfel vom 16. Juni dieses Jahres eine Annäherung zwischen der  russischen Führung und dem westlichen Bündnis anzubahnen, die einer „geopolitischen  Stabilisierung“ dienen soll. Als zivilgesellschaftliche Plattform, die sich für einen nachhaltigen  Frieden und die sichere Reintegration der besetzten ukrainischen Gebiete einsetzt, möchten wir  die Bundesregierung sowie den ukrainischen Präsidenten auf folgende Punkte hinweisen: 

I. Die akute sicherheitspolitische Bedrohung durch den russischen Truppenaufmarsch an  der Westgrenze Russlands und die Blockade der Verhandlungen in der Minsker  Trilateralen Kontaktgruppe durch die Russische Föderation werden unvermindert und  bewusst aufrechterhalten, 

1) Die Ankündigung der russischen Seite, den Truppenaufmarsch vom Frühjahr zu  beenden, ist international zu früh ernst genommen worden. Die weiter bestehende  Truppenmassierung und die anhaltend schlechte Sicherheitslage drängen die Arbeit  zivilgesellschaftlicher Friedensinitiativen in den Hintergrund und erschweren jeden  Dialog zwischen den Menschen über die Kontaktlinie hinweg. 

2) Vor diesem Hintergrund irritieren die Pläne für einen Gipfel zwischen der EU und  Russland. Für diese von Deutschland und Frankreich ausgehende und mit den EU Partnern nicht abgestimmte Initiative fehlen klare Signale der Bereitschaft zu Deeskalationsschritten im Donbas-Konflikt aus Moskau. Austausch auf höchster politischer Ebene ist zu begrüßen. Dieser sollte jedoch unter bestimmten Bedingungen  geführt werden und setzt klare Antworten voraus, u.a. auf folgende Fragen: Wann wird  Russland auf den durch die Ukraine ausgelösten und im Wiener Dokument der OSZE  vereinbarten Konsultations- und Kooperationsmechanismus antworten, sowie für  Transparenz hinsichtlich der Truppenbewegungen- und -stärken sorgen? In welchen  Schritten gedenkt die russische Führung ihre Truppen an der eigenen Westgrenze zu reduzieren? Welche Sanktionen werden seitens des westlichen Bündnisses folgen, sollte  Russland die bei einem solchen Gipfel vereinbarten Schritte nicht umsetzen?

3) Zu den konkreten Gesprächspunkten, die ein solcher Gipfel beinhalten sollte, gehören  unserer Ansicht nach das zunehmend aggressivere und seerechtswidrige militärische  Vorgehen der russischen Streitkräfte im Schwarzen Meer und die fortgesetzte  praktische Abkopplung der besetzten ukrainischen Gebiete, die der Kreml bspw. mit  der Ausgabe von russischen Pässen, der Russifizierung der Bildungsinstitutionen in den  besetzten Gebieten und der massiven Prägung des Informationsraums mit eigener  Propaganda verfolgt.

II. Die Notwendigkeit, den existierenden Waffenstillstand an der Kontaktlinie zu festigen: 

1) Ein funktionierender Waffenstillstand an der Kontaktlinie ist eine absolut notwendige Voraussetzung für die Dialogarbeit zivilgesellschaftlicher Friedensinitiativen wie  CivilMPlus mit den Zielen der Unterstützung politischer Konfliktlösung und einer  sicheren Reintegration der Region. Nur so ist eine Kommunikation zwischen den  Gesellschaften der besetzten und nicht-besetzten Gebiete möglich und können  humanitäre und zivilgesellschaftliche Themen die Agenda mitbestimmen. Der derzeitige, wieder sehr brüchige Waffenstillstand muss deshalb befestigt werden. Dazu  müssen die Verantwortlichen für Provokationen an der Kontaktlinie und Verletzungen  der Waffenruhe klar benannt und zur Verantwortung gezogen werden. Eine ungehinderte Überquerung der Kontaktlinie für die Zivilbevölkerung muss  sichergestellt werden. 

2) Es muss alles unternommen worden, um der Speziellen Beobachtermission der OSZE  ein robusteres Mandat zu gewähren. Die Beobachter haben weiter keinen Zugang zur  Grenze zwischen der Ukraine und Russland und können nicht bei Nacht operieren. Wir  rufen die EU-Staaten auf, mit gemeinsamer Stimme im Ständigen Rat der OSZE einen  stärkeren Verifizierungsmechanismus und eine Wiederbelebung der vollständigen  Tätigkeit der Gemeinsamen Kontroll- und Koordinationskommission zu fordern.  Zudem muss gegenüber Russland auf eine Entpolitisierung der Arbeit der Trilateralen  Kontaktgruppe gedrängt werden, damit diese wieder effektiv an den drängenden konkreten Fragen der Umsetzung von Deeskalations- und  Verständigungsvereinbarungen arbeiten kann. 

3) Wir rufen die Bundesregierung auf, im Verbund mit ihren EU-Partnern gegenüber der  russischen Führung auf eine sofortige Öffnung existierender und die Schaffung neuer  Übergangspunkte zwischen besetzten und unbesetzten Gebieten zu drängen. Derzeit  sind weder die Pandemielage noch die lokale Sicherheitssituation hinreichende  Argumente, um eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Zivilbevölkerung zu  rechtfertigen.

4) Wir rufen die Bundesregierung auf, sich für die Bekämpfung der Straflosigkeit und die  Aufklärung der Kriegsverbrechen (vor allem aus den Jahren 2014/15) in  Übereinstimmung mit internationalen Normen aktiv einzusetzen. Auch die Ukraine  wird aufgerufen in dieser Hinsicht wichtige Schritte einzuleiten: dazu gehören die  Harmonisierung der nationalen Strafgesetzgebung mit dem internationalen Strafrecht  und humanitären Völkerrecht sowie die Ratifizierung des Römischen Statuts des  Internationalen Strafgerichtshofs. 

III. Die Lage in den regierungskontrollierten Gebieten der Ostukraine zu normalisieren,  die Region weiterzuentwickeln und dort durch die folgenden Maßnahmen eine positive  Motivation zur Reintegration für die Bevölkerung in den okkupierten Gebieten zu  schaffen: 

1) Die politische und ökonomische Situation in den regierungskontrollierten Gebieten der  Ostukraine ist weit von jeder Normalität entfernt und entspricht keinesfalls den  Standards friedlicher, demokratischer Entwicklung. Neben der Sicherheitslage braucht  es für die Entwicklung der Region vor allem politischen Willen und eine effektive  Verwaltung, welche die lokale Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozesse einbezieht.  Aus unserer Sicht spielt die dortige Lage eine eminent wichtige Rolle für die Zukunft  des Konflikts und der Region insgesamt. Die ukrainische Regierung braucht jede  Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und eine stärker werdende  ukrainische Zivilgesellschaft für eine weitere positive politische und ökonomische  Entwicklung dieser Gebiete. Die Zivilgesellschaft muss bei allen Schritten aktiv  einbezogen und unterstützt werden. Dies wird ein wichtiges Signal an die Bürger auf  der anderen Seite senden und russischer Propaganda entgegenwirken. 

2) Wir rufen die Kiewer Regierung auf, die Dezentralisierungsreform auch in den  regierungskontrollierten Gebieten der Ostukraine zügig umzusetzen und den dort  lebenden Bürgern ein substanzielles Maß an Selbstverwaltung und eigenen  Kontrollrechten zu ermöglichen. Nur so kann sich ein aktives Bürgertum etablieren.  Dazu müssen die Aufgaben der Zentralregierung, wie die Wiederherstellung und  Errichtung moderner Infrastruktur sowie der wirtschaftliche Wiederaufbau samt  Investitionen, endlich Priorität genießen. 

3) Die Maßnahmen der ukrainischen Zentralregierung zur Verbesserung der  Sicherheitslage in der Region sind durch die komplexe sicherheitspolitische Situation  gerechtfertigt. Jedoch dürfen die im Gesetz der Ukraine über den Status der zivil militärischen Verwaltungen von 2015 vorgesehenen Befugnisse die Aktivitäten der  Zivilgesellschaft nicht behindern. Es ist daher notwendig, die negativen Auswirkungen  dieses Gesetzes auf die Tätigkeit der Zivilgesellschaft sowie auf die lokale politische  Dynamik zu minimieren. Eine weitestmögliche Normalisierung des demokratischen  und gesellschaftlichen Lebens in der Konfliktregion ist anzustreben. Nur so kann eine tiefe Verankerung und Integration der regierungskontrollierten Gebiete innerhalb des  ukrainischen Staats erreicht und eine starke Identifikation mit ihm befördert werden.

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